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„Wir nennen es positive Diskriminierung“

FW

Einblicke in verschiedenen Abteilungen, Präsentation der Trainingsphilosophie Deutschland, Trainings bei Amateurvereinen und gleich zwei Stadt-Derbys: In Oslo wird es nicht langweilig. Ein Erfahrungsbericht.

Beim ersten Spaziergang bin ich noch überrascht: Mädchen, die in ihrer Freizeit auf einem Bolzplatz Fußball im sechs gegen sechs spielen? Ohne Jungs? So etwas habe ich unorganisiert noch nie gesehen. Nach einer Woche in der Stadt und in der Fußballwelt weiß ich: Das ist gelebte Normalität. Die entsteht aber nicht automatisch, sondern durch eine grundsätzliche Haltung der Menschen und daraus resultierenden Maßnahmen zur Gleichberechtigung.

Als ich Glenn Kleven, den Verbandstrainer des Landesverbands Oslo frage, warum sie mehr Fördermaßnahmen für Spielerinnen als für Spieler durchführen, schaut er mich verständnislos an und sagt: „Wenn wir Jungs und Mädchen gleichbehandeln, wird sich ja nichts am Status Quo ändern.“ Ane Eide Kjærås, die Leiterin der Fußballentwicklung, ergänzt: „Wir nennen es etwas flapsig positive Diskriminierung.“

Diese positive Diskriminierung zeigt sich in allen Bereichen: Die Ausbildung ist für Trainerinnen günstiger oder kostenfrei, nach der ersten Lizenzstufe folgen Mentorings und Netzwerktreffen. Im Landesverband Trondheim müssen alle Teams bis zur U16 mindestens eine weibliche Trainerin haben. Es gibt Turniere und Trainings, bei denen Mädchen ohne Vereinsmitgliedschaft mitspielen können. In Tromsø forscht ein wissenschaftliches Institut ausschließlich zum Mädchen- und Frauenfußball. Eines der Studien zeigt: Trainer*innen denken, dass Mädchen nur zum Spaß Fußball spielen. Ihr Ehrgeiz im Training und der Antrieb, sich zu verbessern, werden unterschätzt.

Das Resultat der positiven Diskriminierung: Auf eine Spielerin in Norwegen kommen zwei Spieler. Die Quote in Deutschland und Südbaden ist deutlich schwächer. Die Förderung des Mädchen- und Frauenfußballs ist nur einer von mehreren Beweggründen für meinen Auslandsaufenthalt, weitere Themenfelder sind die Wettbewerbsformate, Kinderfußball und die Ausbildung der Trainerinnen und Trainer. Das EU-Programm Erasmus+ „zur Förderung von allgemeiner und beruflicher Bildung, Jugend und Sport in Europa“ finanziert die Woche in Oslo vollständig. Ich bin dankbar, dass die Geschäftsführung und das Präsidium des SBFV meine internationale Weiterbildung nicht nur billigen, sondern mich dazu ermutigen.

Mein norwegischer Gastgeber Bo Folke Gustavson ermöglicht mir Treffen über meine Themenbereiche hinaus – mit den Führungspersonen aus verschiedensten Abteilungen des NFF wie z.B. der Talentförderung, der Vereinsentwicklung oder dem internationalen Department, das für das Außenministerium Projekte in aller Welt durchführt. Der Großteil der Projekte in den meist patriarchalischen Gesellschaften haben das Ziel, Mädchen das Fußballspielen zu ermöglichen und Frauen zu Trainerinnen auszubilden. Die verschiedensten Einblicke beim NFF hier zusammenzufassen würde den berühmten Rahmen dieses Berichts sprengen.

Auffällig ist die Arbeitskultur: Flache Hierarchien, eine offene Atmosphäre und kurze Wege: Das sorgt unter anderem dafür, dass ich an meinem Schreibtisch mit dem U21-Nationaltrainer Norwegens, Jan Peder Jalland, 15 Minuten lag über die Positionierung eines Innenverteidigers in Ballbesitz diskutiere. Um 17:00 Uhr bin ich allein im Büro mit Blick in das Nationalstadion Ullevål: Hier macht niemand Überstunden, schließlich müssen spätestens um 16:30 Uhr die Kinder aus der Kita geholt werden. Das übernehmen in der fast egalitären Gesellschaft selbstverständlich auch die Männer.

Überstunden sind auch nicht notwendig, denn die Arbeitsweise wirkt sehr effizient: Meetings sind gut vorbereitet, dauern nicht lang und Entscheidungen werden auf der Basis von Zahlen bzw. wissenschaftlichen Fakten getroffen. Liegen die nicht vor, wird eine Studie in Auftrag gegeben und erst dann entschieden.

Die Wahrheit liegt aber wie immer auf dem Platz: Ich hospitiere beim Amateurverein Haslum IL und dem Drittliga-Zweitplatzierten Kjelsås Fotball und darf selbst Trainingseinheiten mit den U13-Teams durchführen. Als ich zwei Kleinfeldtore positionieren möchte, kommt Kjelsås -Sportdirektor Arild Nøst Odland entschuldigend zu mir und meint: „Wir müssen die Mädchen priorisieren.“ Die U9-Mädels bekommen zwei Tore fürs Abschlussspiel, die U13-Jungs nicht. Ich feiere das, aber denke gleichzeitig: Wäre das in Deutschland möglich?

Die Trainingsprinzipien der Trainingsphilosophie Deutschland – mehrere Felder, Teams nicht größer als 4 gegen 4, so viel Nettospielzeit in den Spielformen wie möglich – kommen in Norwegen bei Spielern und Trainern gleichermaßen gut an. Die Trainingsphilosophie-Theorie präsentiere ich in einer VIP-Loge des Nationalstadions vor einer illustren Runde aus U-Nationaltrainer*innen und online zugeschalteten Trainer*innen aus dem ganzen Land. Das Feedback zur Konzeption von Hannes Wolf und seinem Kompetenzteam: Sehr positiv.

Die besuchten Amateurvereine sind top organisiert und profitieren enorm von der Kooperation zu den umliegenden Schulen. Aufgrund der hohen Nachfrage werden zusätzliche Einheiten zwischen Schul-Ende und Vereinstraining angeboten, kombiniert mit gesundem Essen. Dieses „Akademie-Training“, wie es genannt wird, ist Teil der Nachmittagsbetreuung der Schulen. Die Einnahmen werden von den Vereinen genutzt, um hauptamtliche Trainer*innen einzustellen, die wiederum die Trainingsqualität steigern. Richtige Trainer*innen in unserem deutschen Verständnis gibt es in Norwegen jedoch erst ab der U12/U13. Vorher, im Kinderfußball, sind meist Eltern die Teambetreuer, die als Spielfeldbegleiter ohne großes Coaching die Trainings-Vorlagen der sportlichen Leitung umsetzen.

Bei den Trainingseinheiten überrascht mich die Homogenität. Es gibt keine Spieler*innen, deren Spielfähigkeit groß abfällt. „Fußball für alle“ ist das Motto des Norwegischen Fußballverbands. In der Talentförderung wird es in „So viele Spieler*innen wie möglich, so lange gemeinsam wie möglich“ übersetzt. Erling Haaland kickte bis zum 16. Lebensjahr in seinem Heimatverein. Im Verband gibt es zudem einige Projekte, um spätentwickelte Spieler*innen besser zu identifizieren und im Talentpool zu behalten. In der Jugend ist die körperliche Entwicklung so unterschiedlich, dass bewiesenermaßen frühentwickelte körperliche starke Spieler Spieler*innen deutlich mehr gesichtet werden als spätentwickelte Spieler*innen.

Für eine C-Lizenz reise ich aufs Land zur Spielgemeinschaft HSV Fotball. Wie Haslum und Kjelsås ist das ein „Quality Club“. Dieses Siegel erhält ein Verein durch die Erfüllung eines umfassenden Kriterienkatalogs, z.B. eine qualifizierte Trainerin bzw. ein qualifizierter Trainer je Team oder ein Trainingskonzept für den Gesamtverein. Neben finanzieller Unterstützung und besonderer Betreuung durch den Verband sind Qualitätsklubs auch attraktiver für Spieler*innen und deren Eltern. Es gibt drei Kriterien-Stufen, zudem können sich Vereine auf bestimmte Bereiche wie soziales Engagement, Breitenfußball oder Leistungsfußball spezialisieren und sich so eine klare Identität geben.

Zum Abschluss habe ich das Glück, zwei Oslo-Derbys in zwei Tagen zu erleben. Weil der Traditionsklub Vålerenga Oslo abgestiegen ist, wurde das Samstags-Spiel gegen Lyn Oslo ins Nationalstadion verlegt. Die Atmosphäre in der ausverkauften Arena ist bombastisch. Außenseiter Lyn holt nach langer Überzahl ein 1:1, ein beseelter Lyn-Fan schenkt mir seinen Schal. Am Abend zuvor erlebe ich das „Straßenbahn-Duell“ zwischen Skeid und Kjelsas, die Stadien liegen nur zwei Tram-Stationen auseinander. Der Favorit Skeid gewinnt nach einem fußballerisch ansehnlichen Spiel mit 1:0. An der Seitenlinie jubelt Vilde Mollestad Rislaa, die 31-jährige Cheftrainerin. Dass es normal ist, dass eine Frau einen potenziellen Zweitliga-Herren-Aufsteiger trainiert, überrascht mich nach der Woche in Oslo nicht mehr.